Der Brückenbauer
Schanfigger Momentaufnahmen». Heute im Porträt: Mohammad Saadat
Es ist Dienstagabend, Mohammad Saadat sitzt im Kulturhuus und probt gemeinsam mit Toni Butzerin und Gaby Mattli für die Eröffnung der Ausstellung «Afghanistan, wie geht es dir?» im Kulturhuus Schanfigg in Langwies. Das Spezielle daran: Toni Butzerin und Gaby Mattli spielen auf einem Schwyzerörgeli, Mohammad Saadat auf seiner Dambura, einem afghanischen Saiteninstrument, das er sich aus Schanfigger Ahornholz gebaut hat. Diese interkulturelle Momentaufnahme ist geradezu charakteristisch für Mohammad, der 1986 in Afghanistan geboren wurde, im Iran aufgewachsen ist, mit 20 Jahren in die Schweiz kam und über Umwege hier in Langwies sein Zuhause gefunden hat. Die kulturellen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Afghanistan und der Schweiz faszinieren ihn. Er fühlt sich mit der afghanischen Kultur verbunden, sehnt sich nach ihr, sucht und lebt sie. Gleichzeitig reflektiert er auch die Eigenheiten der hiesigen Gepflogenheiten und Traditionen und macht sie sich zu eigen. Die aus Schanfigger Ahornholz gebaute Dambura ist nur ein Beispiel von vielen und zeigt, wie fliessend bei Mohammad Schweiz und Afghanistan ineinandergreifen. Dass dieses Miteinander aber nicht immer nur einfach ist, sondern auch Reibungen und Dissonanzen verursachen kann, merkt man, wenn die Dambura und das Schwyzerörgeli gleichzeitig tönen, sich aber nicht richtig finden. Nach einer Weile fassen die drei den Plan, an der Eröffnung lieber doch nicht gleichzeitig, aber immerhin abwechselnd zu spielen – ein guter Kompromiss. Sie packen ihre Instrumente weg und Mohammad lädt alle zu sich in die Wohnung, wo noch bis spät am Abend zusammen geredet und Schwarztee getrunken wird. Zwei Kulturen leben Mohammad hat ein ausgesprochen ausgeprägtes und reflektiertes Bewusstsein für die Unterschiedlichkeiten von Kulturen. Er könne nur zu gut verstehen, was es heisst, sich fremd zu fühlen. Milde fügt er hinzu, dass er sich in Langwies aber das erste Mal heimisch fühlt. Zuvor war er stets unterwegs und tat sich schwer mit der fremden Sprache. Es schien ihm unmöglich, sich in einem Land zu integrieren, das dem Eigenen derart fern ist. Über die Jahre lernte er aber, was es heisst, zwei Kulturen gleichzeitig wahrzunehmen und zu leben. Heute ist er sowohl sozial als auch beruflich integriert, mittlerweile arbeitet er seit rund zehn Jahren für die Schreinerei Sprecher in Sunnarüti. Nebenbei engagiert er sich ehrenamtlich als Brückenbauer für das kantonale Amt für Integration. Er vermittelt zwischen Schweizer Behörden, Institutionen, der einheimischen Gesellschaft und Zugewanderten aus anderen Kulturkreisen. Oftmals hilft er beim Übersetzen, sowohl bei sprachlichen als auch kulturellen Missverständnissen. Ausserdem ist er aktives Mitglied des Salsal-Shamama-Kulturvereins. Auch in Langwies ist er dem lokalen Kulturverein – dem Verein Kulturhuus Schanfigg – sehr nahe, und zwar wortwörtlich. Seit 2018 lebt er mit seiner Frau Fatimeh und seinen Kindern Danial,Abedin und Hana im zweiten Stock des Kulturhuus. Am 1. Mai seien es genau fünf Jahre, meint er stolz.
Mit der Ausstellung «Afghanistan, wie geht es dir?» ist Mohammad erstmals in eine Ausstellung aktiv involviert, im Grunde ist er gar Dreh- und Angelpunkt. Gezeigt werden 16-mm-Filme von Viktor Wyss sel. aus dem Jahr 1963. Darin dokumentierte Wyss die Erlebnisse der ersten schweizerischen Hindukusch-Expedition, deren Ziel es war, das Königreich Afghanistan und die Wachan-Berge zu erkunden. Der Expeditionstruppe gehörten neben Viktor Wyss auch Max Eiselin, Simon Burkhardt, Alois Strickler und Hanspeter Ryf an. Mit zwei vollgepackten VW-Bussen fuhren sie von Luzern bis nach Afghanistan und von da aus weiter in Richtung Hindukusch, dem «zweithöchsten Gebirge der Erde», wo sie nach eigenen Angaben als Erste den Schah (6550 Meter) und den Urgent (7038 Meter) bestiegen. Die analogen Filmzeugnisse dieser Expedition wurden das letzte Mal um das Jahr 2000 vorgeführt, bevor sie für gut zwei Jahrzehnte in einen Keller wanderten. Mohammad erfuhr von der Existenz der Filme bei einem zufälligen Gespräch mit Noldi Heiz, dem Schwiegersohn des Filmemachers. Kurz darauf lernte Mohammad auch Regula Wyss kennen, die Tochter von Viktor Wyss sel., die in Arosa lebt und selbst schon länger darüber nachdachte, die Filme ihres Vaters zu digitalisieren. Auch ich seitens Kulturfachstelle und dem Verein Kulturhuus Schanfigg hörte von den hochinteressanten Filmzeugnissen und interessierte mich für die Gelegenheit, mit der Tochter des Filmemachers und Mohammad zusammenzuarbeiten: Schnell entstand die Idee einer gemeinsam konzipierten Ausstellung. Jetzt, nur sechs Monate später, bauen wir zusammen die Ausstellung auf, testen den neuen Beamer, montieren den Fernseher, hängen Kopfhörer und Spiegel, platzieren die Ausstellungsobjekte, verlegen Licht und Kabel – Mohammad mittendrin.
Mit grosser Vorfreude blicken wir der Ausstellungseröffnung entgegen. Bei der ersten gemeinsamen Sichtung der Filme erzählte Regula von den Erlebnissen mit ihrem Vater, von seiner unbändigen Abenteuerlust und seiner Sehnsucht nach fernen Welten. Mohammad kommentierte die Filmaufnahmen über das kulturelle Leben in Afghanistan und übersetzte und erklärte unverständliche Sätze in Dari und Paschtu. Für ihn seien die Filme eine Gelegenheit, uns allen auch mal seine Kultur zu zeigen, die so viel facettenreicher und wunderbarer ist, als es etwa die jetzige Berichterstattung über die schwierigen Geschehnisse in Kabul vermuten lässt. Damit kann man bereits erahnen, dass es in dieser Ausstellung nicht nur um die beiden eindrücklichen Filme gehen wird, sondern vielmehr um das, was die Filme überhaupt erst ermöglichen. Sie eröffnen Gespräche über Herkunft, Heimat und Schicksal, über Zusammenleben, Sehnsucht und Verlust. Afghanistan sei, meint Mohammad abschliessend, doch eigentlich der Schweiz sehr ähnlich – ein Binnenland mit vielen Sprachen und Dialekten und einem Hochgebirge, das unserem ähnlich ist. In diesem Sinne ist es ganz passend, dass das Kulturhuus Schanfigg mit einer Ausstellung zu Afghanistan weit in die Ferne blickt, in dieser Ferne aber auch wieder das ganz Nahe erkennbar wird. Dafür brauchen wir nur ein paar Brücken – die baut uns Mohammad.
Fotos: Ursula Meisser