25. November 2022

Vom Hippie zur Walserkulturführerin

Reportagenreihe «zTal und zBerg.
Schanfigger Momentaufnahmen». Diese Ausgabe mit Gaby Mattli im Porträt

Statt über auswendig gelernte Datenblätter nähert sich Gaby Mattli der Siedlungsgeschichte der Walser über mündlich überlieferte Anekdoten an: von einem Sturm, der ein Stalldach wegriss, einem Blinddarm, der mit dem Küchenmesser herausoperiert wurde oder schulfreien Tagen, wann immer eine Kuh des Lehrers kalberte. Mittendrin: Gaby Mattli selbst und ihre ganz persönliche Faszination für vergangene Zeiten. Zügige Windböen jagen durchs Fondei, die Hänge leuchten noch braungold, die Berge halbweiss, und nur die sorgfältig eingewinterten Walserhäuser mit ihren nietund nagelfest geschlossenen Fensterläden zeugen davon, dass hier schon bald der wildeste Winter Einzug hält. Wir treffen Gaby Mattli an einem der letzten halbwegs milden Tage am Strassberg im Fondei. In bester Plauderlaune führt sie uns durch die Walsersiedlung und kommt ins Erzählen, ins Schwärmen und manchmal auch ein bisschen ins Träumen. Jahrzehnte habe sie am Strassberg verbracht. Weit drüben am Hang in Richtung Blackten, in dem Haus grad neben der einzelnen Arve, habe sie im Herbst zusammen mit ihrem Mann Paul Mattli Vieh ausgefüttert; 30 Jahre lang führten sie zusammen das Berggasthaus «Strassberg». Seit sie alleine ist, komme sie aber nicht mehr oft hoch. Wenn, dann etwa zum Alpfest oder aber wenn sie Kulturführungen zur Walser Siedlungsgeschichte im Fondei anbietet und dabei allen, die ihr zuhören, eine längst vergangene Zeit näherbringt.

Mit einem Hauch Rolling Stones

Gaby Mattlis Kulturführungen sind kultig. Bei unserer ersten Begegnung am Strassberg begrüsste sie mich Kaugummi kauend mit Sonnenbrille und einem ausgebleichten Jeans-Gilet mit RollingStones-Pin. Heute trägt sie Faserpelz und eine alte Ski-Jacke in den knalligsten Primärfarben; wenn sie einen Anruf erhält, dann schellen die ersten Takte von «Brown Sugar» durch Strassberg. Kulturführungen in einem derart abgelegenen Seitental sind wohl der letzte Ort, an dem man Rock’n’ Roll-Attitüde erwartet, doch es ist Gabys unverblümte Art und ihr direkter Zugang zur Walser Kultur, die aus den Führungen ein Erlebnis machen. Hier wird nicht auswendig gelernt und trocken vorgetragen, stattdessen teilt Gaby ihre gelebte Faszination für die Walser und diese umtriebige Siedlung mit dem Namen Strassberg. Dieser Ort, an dem die Walser entgegen aller widrigen Umstände ihre Holzstrickbauten errichteten und der harrschen Natur mit ihren Stürmen und Lawinen trotzten. Vielleicht passen die Stones am Ende gar nicht so schlecht zu den Walsern, zumal das Bandlogo auf Gabys Pin mit der rausgestreckten Zunge von einem Abbild der indischen Göttin Kali entnommen ist, die für Tod, Zerstörung, aber auch Erneuerung steht. Hier lebt sich nur aus dem Widerstand heraus.

Die Flucht nach vorne, hoch ins Fondei

Als Gaby Mattli im Jahr 1974 ins Schanfigg kam wollte sie eigentlich nur dem Unterländer-Alltag entfliehen. Der Himmel, oder wie sie ihn nennt, «schwarze Deckel» über Zürich und ihr Büroalltag als Reiseleiterin habe sie dazu bewogen zu sagen: «Kumm, jetzt verreisisch – jetzt, hüt muasch go». Am Abend verabschiedete sie sich bei ihrem Chef mit den Worten «mi gsiehsch nümma». Sie besuchte eine Freundin in Arosa und suchte einen Saisonjob. Man empfahl ihr sich bei Peter Mattli, dem Skischulleiter, zu melden. Fortan arbeitete sie über die Wintermonate hinweg als Skischullehrerin, während sie im Sommer als «richtiger Hippie» um die Welt zog. Die Mattlis waren’s schlussendlich auch, die ihr das Fondei zeigten und ihr aus erster Hand Walsergeschichten erzählten: «Do bisch zemmaghocket, hesch an halb Liiter ka und denn isch los ganga. Also jenochdem, au nidt immer». Die Geschichten seien so spannend gewesen, dass sie es rückblickend bereut, sie nicht immer mit einem Tongerät aufgezeichnet zu haben. Dass ihr trotzdem vieles geblieben ist und sie das Gehörte auch mit anderen teilen möchte, merkt man ihren Kulturführungen an. Denn: Gaby hat viel gelesen und studiert. Das fundierte Grundwissen ihrer Führungen zieht sie u.a. aus Paul Zinslis Abhandlung zum Walser Volkstum oder auch aus Hans Mettiers «Das Hochtal Fondei». Aber erst wenn sie gehörte Geschichten weitererzählt blüht sie auf und mit ihr Strassberg, das von ihren Erzählungen belebt und damit auch für auswärtige Gäste erlebbar wird.

Überlagerte Zeiten: das Gestern im Heute und umgekehrt

Die Stärke von Gaby Mattlis Herangehensweise liegt indes genau darin, dass es ihr bei den mündlich überlieferten Anekdoten nie nur um die Sensation oder den Klatsch geht. Vielmehr lässt sich über ihre Erzählungen auf die eigentliche Siedlungskultur am Strassberg schliessen. Wenn sie erzählt, dass ein wilder Sturm einst ein Stalldach mit den obersten Trämel in die Siedlung trug, dann vermittelt das ein Bewusstsein für die gnadenlose Wucht der Wetterumschwünge im Fondei, die das Leben am Berg seit jeher mitbestimmen. Andere Anekdoten geben ein Gespür dafür, was die letzte Konsequenz eines fernab errichteten Lebensalltags sein können. Während eines tobenden Schneesturms wurde einst ein Blinddarm mit einem im Ofen erhitzten Küchenmesser herausoperiert. Entweder man überlebt’s, oder man stirbt sowieso – ein prägnantes Beispiel dafür, dass man sich hier im Fondei vor allem selber helfen musste. Andernorts erzählt sie, wie der Lehrer wann immer seine Kühe kalberten ein Fähnchen ans Schulhaus-Fenster hängte, damit die Schulkinder wussten, dass heute schulfrei ist, was exemplarisch für die enge Verbindung von Schul-Bildung und bäuerlicher Arbeit steht. Während der Führung vermag Gaby fast zu jedem Haus was zu erzählen – sie sei in jeder Stube sicher schon einmal, wenn nicht zwanzigmal gewesen. Was daraus entsteht ist eine Kulturführung, die entlang von Anekdoten historische Siedlungsgeschichte über einen 70s-Einschlag mit der Gegenwart verbindet und dabei immer auch die Zukunft mitdenkt: so war’s, aber was wird sein?

Versiegende Kulturvermittlung am Berg – Walser, quo vadis?

Wie’s sein wird ist im Moment unklarer denn je, zumindest was die Vermittlung vom Walser Kulturerbe anbelangt. Erst kürzlich gab es im Fondei noch verschiedene, regelmässig stattfindende Vermittlungsangebote, wie der Liecht-Hengert, das Schaukäsen oder eben Gaby Mattlis Kulturführungen. Für nächsten Sommer ist noch kaum was fest geplant. Grund dafür ist eine gewisse Art von Stagnation und auch Resignation. Einerseits könne man jedes Jahr zuschauen, wie weniger Touristen kommen – besonders bei Angeboten, die’s schon länger gibt­ – andererseits gibt’s immer weniger Leute im Tal, die aktiv Wissen vermitteln wollen. Auch Gaby selbst machen die Entwicklungen nachdenklich. Sie selbst weiss bestens, dass das Wissen um Geschichten und Anekdoten schnell verloren geht, wenn nicht kontinuierlich weitererzählt wird. Und auch wenn das Interesse zuletzt etwas abgegeben hat, aufgeben möchte man deswegen nicht. Deshalb organisiert die Kulturfachstelle Arosa-Schanfigg am 9. Dezember um 18.00 Uhr einen runden Tisch zum Thema «Walserkultur, wie weiter?», an dem darüber diskutiert und beraten wird, wie neue Vermittlungsformate wie Führungen, Workshops oder Exkursionen aussehen können, wer dafür zu gewinnen wäre und wie Walserkultur zukünftig nicht nur im Fondei, sondern auch in Medergen und im Sapün erlebbar gemacht werden kann. Vielleicht finden sich auf diese Weise mehr Menschen wie Gaby Mattli, die auf ihre ganz eigene, unverstellte Art und Weise Walserkultur nicht nur leben, sondern auch lebendig weitergeben; vielleicht mit einer Prise Rock’n Roll, vielleicht aber auch ganz anders. Gaby Mattli zeigt, dass Vieles möglich ist.

 

Fotos: Nina Homberger

Carla Cabrí Arosa Tourismus | © Arosa Tourismus
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Carla Gabri
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